Wir schreiben inzwischen Mitte Dezember, aber mein Zierapfelbaum hat noch kaum eines seiner Früchtchen abgeworfen. Langsam platzen die ersten Schalen auf, weil jeden Tag die Vögel an den Äpfelchen herumpicken. Das beobachte ich immer sehr gern. Dieser Baum macht genau das, was vielen Menschen so schwerfällt.Er lässt andere an seinen „Früchten“ teilhaben.
In Unternehmen gehört es heutzutage vielfach dazu, dass Weihnachtsgeld, Boni oder zusätzliche Provisionen für die Mitarbeiter fließen, um deren Arbeit zu honorieren. Es ist eine Geste der Anerkennung und soll im besten Fall vermitteln: Dass wir als Firma erfolgreich sind, haben wir Eurer guten Arbeit zu verdanken. Wir haben die Früchte des Geschäftsjahres geerntet, nun sollt Ihr als Team auch etwas abbekommen.
Das ist aber nicht ganz das Gleiche, was der Apfelbaum und die Vögel einander geben. Denn ein Unternehmer honoriert, was seine Mitarbeiter zu seinem Erfolg – den Gewinnen der Firma – beigetragen haben. Mein Zierapfelbaum lässt Meisen und Finken auf Nahrungssuche an den Früchten picken, obgleich sie nichts dazu beigetragen haben, dass er überhaupt Früchte trägt. Er schenkt sozusagen ohne Gegenleistung.
Nun könnten Biologen unter Euch zwar argumentieren, dass das so nicht stimmt – denn die Vögel verbreiten wiederum die Samen in den Äpfelchen und sorgen so dafür, dass neue Bäume entstehen. Und die Bienen haben im Frühjahr die Blüten befruchtet, sonst würden jetzt keine Früchte an den Zweigen hängen. Das stimmt, Tier- und Pflanzenwelt stehen in einem Kreislauf. Sie bedingen einander wechselseitig.
Aber auch Unternehmen stehen in einem Kreislauf mit den Menschen, die bei ihnen beschäftigt sind: auch sie sind aufeinander angewiesen. Der zufriedene, wertgeschätzte Mitarbeiter leistet etwas, das ihm seinen Arbeitsplatz sichert und der Firma den Erfolg. Ohne Arbeit könnte er aber auch nicht beruflich erfolgreich sein.
Kultur und Natur gelten als klassische Gegensätze. Ich würde es anders sagen: Unternehmenskultur darf sollte „natürlich“ und authentisch wirken. Das kann bedeuten, Mitarbeiter auch für bloße Anstrengungen zu belohnen beziehungsweise zu loben. Nicht nur für „Abschlüsse“, Gewinne und monetäre Erfolge. Das kann bedeuten, den Mitarbeitern einen Vertrauensvorschuss zu gewähren – um sie zu motivieren und anschließend eine umso reichere „Ernte“ einzufahren.
Denn genau so macht es mein Apfelbaum. Er gibt unbewusst einen Vertrauensvorschuss. Er verschenkt zuerst die Äpfel, und muss sich dann gemäß seiner Natur darauf verlassen, dass die Vögel den Samen weit verteilen. Auch wenn nicht jeder Same aufgeht. Denn wenn der Baum nur Fallobst produzieren würde, wäre der Radius der Kerne und damit auch die Weiterverbreitung ziemlich eingeschränkt. Anderen auch ohne Garantie auf Erfolg etwas abzugeben – sei es Geld, Vertrauen oder Apfelkerne, bringt Dich weiter, als skeptisch nur dann zu teilen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Besser gesagt: Auf Fallobst zu hoffen.
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Über den Autor