Erkennen, was Wahrheit und was Wirklichkeit ist
Ob Du es willst oder nicht, täglich urteilst Du über andere Menschen, Situationen und Umstände. In der Nähe meines Hauses hat ein Obdachloser in einem Fahrradunterstand Quartier bezogen. Zurzeit haben wir Minusgrade – aber der Mann liegt in dicke Decken und Schlafsäcke gehüllt auf einer Isomatte. Er bettelt nicht, ist weder aggressiv noch vollkommen verwahrlost. Viele Menschen gehen täglich an ihm vorbei, aber die Wenigsten sprechen ihn an. Warum? Vielleicht nicht einmal aus Herzlosigkeit. Sondern aus Angst davor, eine Verpflichtung und Verantwortung für jemanden Fremdes einzugehen. Vielleicht zurzeit aus Angst vor Corona. Möglicherweise aus Unsicherheit, weil sie dem Obdachlosen nicht zu nahe treten und ihn als „Almosenempfänger abwerten wollen. Oder weil sie sich in der Rolle des Stärkeren unwohl fühlen. Es könnte aber auch sein, dass diese Person ihnen etwas zeigt, das sie nicht sehen wollen: Der Mann ohne Zuhause spiegelt ihnen die eigene Hilflosigkeit im Umgang mit sich selbst und eine Form der inneren Heimatlosigkeit – in Form der Hilflosigkeit im Umgang mit anderen „Heimatlosen“.
Die meisten von uns sehen nur die Oberfläche, halten sie für wahr und gehen Menschen, Umständen, Glaubenssätzen und Verhaltensregeln sprichwörtlich nicht auf den Grund. Dass der Schein trügen kann, wissen wir insgeheim, denn wenn wir nur die Oberfläche betrachten, haben ein Bergsee und eine Pfütze scheinbar die gleiche Tiefe. Doch Dein Gefühl kann tiefer blicken – Dein Herz ist sozusagen die Ausrüstung für einen Tauchgang. Die ersten Meter unter Wasser hat jeder sogar vom Ufer aus noch gute Sicht, aber Ängste und Schwächen genau wie liebenswerte und positive Eigenschaften siehst Du an anderen und Dir selbst erst, wenn Du mit der richtigen Ausrüstung eintauchst.
Wer nicht tief blicken möchte, für den liegt da draußen in der Kälte nur irgendein Penner, der es offenbar nicht einmal zur nächsten Obdachlosenunterkunft zu finden. Doch wer auf sein Herz hört, muss sich nicht von oberflächlichen Eindrücken leiten lassen. Egal, ob jemand einen schmuddeligen, abgetragenen Parka oder einen Designermantel anhat. Wer sein Herz entfesselt hat, kann den Dingen auf den Grund zu gehen und hinsehen – auch in die Abgründe. Er muss sich nicht fürchten, tiefer zu blicken. Denn es wird ihm nichts gezeigt werden, was er nicht sehen will – weil er das Vertrauen in seine eigene schöpferische Kraft und in seine Fähigkeit hat, Positives zu bewirken.
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